Rohstoffe der Geisteswissenschaften

Wachs: Stoffe der Phonographie-Forschung

Kopie von Erich Hornborstel’s Zylinderaufnahme eines wendischen Liedes (Spinnlied “Die Lilie”, gesungen von Chr[istine?] Maratz, 3. März 1907). Die Kopie wurde aus einem Stück Montanwachs hergestellt.
© Phonogramm-Archiv im Ethnologischen Museum, Staatliche Museen zu Berlin.

Mit der Phonographie kam Ende des 19. Jahrhunderts eine für die Geisteswissenschaften höchst einflussreiche Technologie zur wiederholbaren, scheinbar objektiven und exakten Analyse von Sprache, Musik und akustischer Umwelt auf. Besondere Prominenz im deutschsprachigen Raum erlangten das 1900 von Carl Stumpf am Berliner Institut für Psychologie eingerichtete Phonogramm-Archiv und die 1920 durch Wilhelm Doegen an der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin etablierte Lautabteilung.
Beide Initiativen avancierten bald zu Großprojekten mit mehreren tausend Wachswalzen bzw. Wachsplatten und ermöglichten Musik- und Sprachwissenschaftlerinnen, Ethnologinnen, Anthropologinnen und Psychologinnen neuartige Forschungsvorhaben. Dass diese Projekte eng verbunden waren mit der europäischen Kolonialpolitik und imperialistischen Forschungsinitiativen in aller Welt und dass ihre Bestände zudem stark von Aufnahmen in deutschen Kriegslagern im Ersten Weltkrieg profitierten, wurde bereits gezeigt (z.B. Ziegler 2006; Scheer 2010).
Doch nicht erst die aktuelle Neupräsentation der erhaltenen Bestände von Phonogramm-Archiv und Lautabteilung im Humboldt-Forum im Berliner Stadtschloss verlangt nach einer weiterführenden kritischen Aufarbeitung. In Ergänzung einer Provenienzforschung, die auf eine mögliche Restitution und kritische Neukontextualisierung der archivierten Stimmen zielt (z.B. Lange 2019; Kirchmaier 2022), untersucht das TP die politischen Verstrickungen der beiden Großprojekte auf stofflicher Ebene und widmet sich der geografischen Provenienz der für die Aufnahmen verwendeten Wachse.
Allgemeiner gesprochen leistet das Vorhaben damit einen Beitrag zur gegenwärtigen Provenienzforschung, die sich vorwiegend auf die Herkunft von in kriegerischen, kolonialen und imperialen Kontexten zwangsweise erworbenen Objekten in Kunst und Wissenschaftssammlungen konzentriert (American Association of Museums 2005; Savoy 2018). Das TP zeigt, dass eine ebensolche Forschung auch für die vielfältigen Materialien, aus denen manche Sammlungsobjekte hervorgegangen sind, erforderlich ist. Anschließen kann diese Form der materiellen Provenienzforschung an eine in Ansätzen schon formulierte politische Ökologie.